15. April 2020
„Was hat sie doch für einen anmutigen Gang“
– hat man sich das nicht schon allenthalben gedacht, wenn ein weibliches Wesen sich besonders elegant und harmonisch bewegt?
Im Mythos der griechischen und römischen Antike hatten den allerschönsten Gang naturgemäß Göttinnen: die olympischen zuvorderst, aber durchaus auch die unteren Kategorien, so etwa die Musen oder die Horen oder die Aglauriden…
Das Marmorrelief auf dem ersten Bild ist in den Vatikanischen Museen zu sehen: drei Frauen schreiten da zügig von rechts kommend nach links aus. Leider ist nur die linke vollständig erhalten, von der mittleren haben wir immerhin den Körper. Von der dritten Frau sieht man bedauerlicherweise nur das kleine Weinkännchen, eine Oinochoe, und den Unterarm. Begibt sich die Triade gerade zu einem religiösen Opfer?
Heute halten die meisten Besucher der Vatikanischen Museen keinen Augenblick inne, wenn sie an dem Relief vorbeigehen; aber es gab nicht wenige, und darunter sehr Bedeutende, die von den schreitenden Mädchen, vor allem von der einen, ganz entzückt waren: insbesondere Sigmund Freud, der von C. G. Jung (!) auf eine Novelle von Wilhelm Jensen – „Eine pompejanische Phantasie“ (1903) – aufmerksam gemacht wurde, die genau dieses Relief zum Thema hat.
Freud schrieb dann eine eigene tiefenpsychologische Arbeit über die Novelle und das Relief, und er war so begeistert von der „Gradiva“, wie Jensen die Schreitende nennt, dass er sich bei einem seiner regelmäßigen Rombesuche – er war ein großer Antikensammler – einen Gipsabguß des Reliefs besorgte und in seiner Ordination in der Berggasse in Wien aufhängte: genau über der berühmten Couch!
Die Forschung meint, dass auf dem Relief die Horen oder Aglauriden dargestellt sind. Die Horen waren Personifikationen der 3 Jahreszeiten Frühling, Sommer und Winter, also Sinnbilder der harmonischen Ordnung in der Natur.
Manche sehen in ihnen auch Eirene (der Frieden), Eunomia (die Ordnung) und Dike (die Gerechtigkeit). Zu den Aglauriden ist die Quellenlage nicht sehr klar, aber angeblich waren sie Heroinen königlichen Ranges, die in Athen verehrt wurden: bei jedem ihrer Schritte, wenn ihr zarter Fuß die Erde berührte, ertönten die herrlichsten Himmelsklänge, so der Mythos…
Genau diese 3 Damen – man denkt an die Zauberflöte – sind auch auf diesen beiden, nahezu identischen Reliefs zu sehen, und zwar jeweils rechts vom Baum: links von diesem will die Forschung hingegen eine Muse erkennen: alle 4 Damen müssen wir uns jedenfalls in die schönsten Sphärenklänge eingehüllt vorstellen.
Das eine Relief ist im Museo Nazionale Romano im ehemaligen Collegio Massimo unweit des römischen Hauptbahnhofs zu sehen, das andere habe ich vor einigen Jahren im Archäologischen Museum im Piräus bei Athen entdeckt. Sie wurden offenbar von ein und derselben Athener Werkstatt für den Export nach Rom hergestellt, wohl im frühen 2. Jh. n.Chr., zur Zeit der Kaiser Trajan oder Hadrian, und zwar nach einem griechischen Vorbild des beginnenden 4. Jhdts v. Chr.
Bitte schaut Euch die Bilder nach Möglichkeit nicht nur am Handy, sondern auf einem großen Screen und in Ruhe an, vielleicht spürt Ihr dann den Rhythmus ihres Schreitens und vielleicht begleiten die göttlichen Damen auch Euch dann bis in süße Träume, wie dies bei Sigmund Freud und Wilhelm Jensen der Fall gewesen ist …