Das European Narrative
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(8) Die Dimension der Zeit

9. Mai 2020

„Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn“,

…  dieses Goethe-Wort von den Äonen, von unvorstellbar weiten Zeiträumen, hat mich stets beeindruckt. 

Faust spricht davon, und zwar am Ende seines letzten Auftritts im fünften Akt von Faust II, unmittelbar vor seinem Tod. Davor fallen die geflügelten Worte (übrigens ein homerischer Ausdruck): „…zum Augenblicke dürft ich sagen: verweile doch, du bist so schön!“ Wie viel bringt das doch in uns zum Schwingen … Aber zurück zu den Äonen: Griechen und Römer kannten diese vor allem im Singular: AION. Seine Bedeutung war Zeitalter oder sehr langer Zeitraum, später auch das ewig Bleibende

Begrifflich war Aion eng verbunden mit dem als einzig unwandelbar angesehenen Kosmos. Solche uralten Vorstellungen kommen aus dem mit der Kosmologie besonders vertrauten assyrisch-babylonischen Kulturkreis, aber auch Beziehungen zur persischen Lichtreligion des Zoroaster sind möglich …

Dieses wunderschöne Marmorrelief des Aion sah ich vor einigen Jahren im Museum von Aphrodisias, einer Ausgrabungsstätte in der antiken Landschaft Karien in Kleinasien (heute südwestliche Türkei). Ein uralter Mann, etwa halb lebensgroß dargestellt, sitzt nachdenklich grübelnd vor uns und blickt versonnen in unendliche Fernen. Über ihm steht in griechischen Großbuchstaben: AION. Die rechte Hand stützt sein Antlitz und gibt ihm einen Hauch von Trauer oder Sorge. Was hat Aion in seiner unendlich langen Existenz nicht schon alles gesehen? Tout déja vu – jedenfalls gibt es für ihn keinen Grund zu besonderer Heiterkeit oder freudiger Erregung. Hier noch einmal der würdige Greis aus der Nähe:

Das Relief entstand etwa um die Zeitenwende, als die Stadt Aphrodisias in besonderer Blüte stand, und gehört zum Grabmal eines gewissen Caius Iulius Zoilus, eines Mannes, der eine sensationelle Karriere vom freigelassenen Sklaven bis an die Spitze der Gesellschaft in seiner Region machte. Eine Quelle nennt ihn sogar einen persönlichen Freund von Kaiser Augustus. Das Bild des Aion ist wie vieles in der Antike mehrdeutig, hier dürfte aber der Wunsch des Auftraggebers Zoilus im Vordergrund stehen, dass das Reich des Kaisers Augustus, seines Freundes, ewig Bestand haben möge.

Vergil hat genau dies in seiner Aeneis  zum Ausdruck gebracht, wenn er dort den Göttervater Jupiter zu seiner Tochter Venus sagen läßt, er würde den Nachkommen ihres Sohnes Äneas, nämlich den Römern und ihrer Herrschaft weder räumliche noch zeitliche Grenzen setzen: „HIS EGO NEC METAS RERUM NEC TEMPORA PONO, IMPERIUM SINE FINE DEDI.
Die Kaiser des Hauses Habsburg – immerhin waren sie bis 1806 R ö m i s c h e Kaiser – haben dieses geflügelte Wort des Vergil auf ihre Dynastie bezogen. Daher finden sie sich etwa auch auf den Deckenfresken aus 1710 im Großen Sitzungssaal des Niederösterreichischen Landhauses in der Wiener Herrengasse: NEC METAS RERUM NEC TEMPORA PONO (siehe oben) …
Und in eine ähnliche Richtung deutet die geheimnisvolle Devise von Kaiser Friedrich III: AEIOU – vielleicht Austria erit in Orbe ultima – Kreise schließen sich …
 
Bruder und Kontrastfigur zum in sich ruhenden Aion war der niemals ruhende Chronos – nicht zu verwechseln mit dem Titanen Kronos. Chronos ist die Personifikation der Zeit, die in ständigem Wandel begriffen ist, die viele dem Tod preisgibt und gleichzeitig dauernd Neues schafft. Auch enthüllt Chronos die Wahrheit, die oft zu lange verborgen bleibt. Er bringt sie ans Licht des Tages und stellt sie uns als nackte Wahrheit vor Augen. 
Aus der Antike haben wir wenig Bilder dazu, aber in der Neuzeit wurde dieses Thema sehr häufig dargestellt:  La verità svelata dal TempoDieses Thema fanden sowohl politische Entscheidungsträger als auch Künstler stets überaus aktuell! Man denkt natürlich an die berühmte, nie vollendete Marmorskulptur von Bernini in der Villa Borghese. 
Aber ich möchte euch hier ein anderes Bild zeigen: 

Die Nuda Veritas, ein wunderschönes Mädchen, immerhin nicht völlig nackt, blickt uns versonnen an. Sie hält das gleißende Licht der Wahrheit in der linken Hand, soeben wurde sie von Chronos enthüllt: mit Ernst und Würde waltet der geflügelte Greis seines Amtes. Links stößt ein Putto die Verleumdung bzw. die Unwahrheit in den Abgrund, rechts hält ein anderer Putto eine Sanduhr. Das Gemälde schmückt einen Plafond im Palazzo Colonna in Rom. Es stammt von der Hand eines Malers, den ich besonders liebe: Pompeo Batoni war der berühmteste Porträtist, aber auch ein gefeierter Historienmaler, im Rom der Mitte des 18. Jahrhunderts. Herrscher und Fürsten aus ganz Europa standen vor seinem Atelier Schlange …
 
Meine Anmerkungen zum faszinierenden Phänomen Zeit und ihrer Wahrnehmung in der Antike und danach sind natürlich wieder einmal nur Stückwerk. Ich war in Rom immer ungemein beeindruckt vom schieren Alter der Kunstwerke der Antike und sann darüber nach, was sie mir wohl erzählen würden, wenn sie nur sprechen könnten … 
 
Ein Großer des Geistes hat das indessen anders empfunden: Der berühmte Anthropologe, Philosoph und Theologe Pierre Teilhard de Chardin (1881 bis 1955), der wesentliches zur Erforschung der Entwicklung des Homo Sapiens und der Evolution im allgemeinen beigetragen hat, war einmal in Rom auf Besuch bei seinen Mitbrüdern im Jesuitenorden. Als man mit ihm den obligatorischen Stadt-Spaziergang machte, um ihm die berühmtesten Sehenswürdigkeiten Roms aus zwei Jahrtausenden zu zeigen, sei er, so erzählt man, merkwürdig unbeeindruckt geblieben. 1000 oder 2000 Jahre, auch etwas mehr, und wenn schon: das war für ihn herzlich wenig, der in Jahrhunderttausenden, wenn nicht Millionen zu denken gewohnt war, eben in Äonen …